Ein Essay, was ist das überhaupt? Und wie schreibt man das - oder den? Darauf antwortet Kristina Klecko in diesem Gastbeitrag. Die Autorin und Schreibpädagogin aus Köln veröffentlicht 14-tägig Essays zu Literatur, Kreativem Schreiben und Zeitgeschehen. Ein Muss für Lesebegeisterte und Schreibfreudige.

Wer mich kennt, weiß, dass ich mich gerne weiterbilde. Neues zu lernen, macht mir Freude und noch schöner ist: In Seminaren treffe ich auf Menschen, die mich inspirieren, bewegen und begleiten. So ein Mensch ist Kristina Klecko. Wir haben uns in der Schreibpädagogik-Ausbildung am Institut für Kreatives Schreiben online kennengelernt und im Frühjahr dieses Jahres gemeinsam den Abschluss gemacht. Seither lese ich 14-tägig mit Begeisterung Kristinas Newsletter „Was mache ich denn da?". Ihre Essays empfinde ich als Geschenke in meinem Posteingang: kurzweilig, klug, bildstark, leicht und tiefgründig, anregend und unterhaltsam. Deshalb habe ich Kristina gefragt, ob sie über Essays einen Gastbeitrag für meinen Blog schreibt. Lesen Sie selbst!

 

Spüren Sie bei dem Wort „Essay" ein Unbehagen in sich aufsteigen? Denken Sie an Radio-Feuilleton und dicke Magazine in Bahnhofsbuchhandlungen? Haben Sie nicht neulich in die gefeierte Essaysammlung einer amerikanischen Intellektuellen reingelesen und die Texte sperrig und, darf man das laut denken, langweilig gefunden? Haben Sie daraufhin entschieden, Essays seien nichts für Sie?


„Und ein Essay, das kann viel sein. Das kann kurz sein. Das kann auch nichts sein." 

Marlene Streeruwitz in „Einwurf versuchsweise", Stuttgarter Zeitung

 

Der Essay ist ein Versuch – und kann ein Versuch bleiben. Kaum eine Textform ist freier und offener für das Experiment. Kaum eine verzeiht das Umherirren, das Suchen und das Weitersuchen. Auch das Nicht-Finden. Es verweigert sich bereits der Zuordnung zu einem Artikel – der oder das Essay? Beides möglich. Wer nach einer Definition sucht, stößt auf Kapitulationen. Es kann alles sein.

Und doch gibt es Richtwerte.

Ralf Kellermann, Deutschlehrer und Autor, nennt in seinem schmalen Reclam-Heft Der Essay vier wesentliche Parameter: die freie Form, das Schreiben entlang einer Frage, den Versuch, eine Lösung für ein größeres Problem zu finden, und den Rückgriff auf sich selbst als Teilnehmer:in und Beschreiber:in des Geschehens. Kurz: Sie verarbeiten ein Thema ausgehend von Ihrer ganz persönlichen Wirklichkeit und bauen eine Brücke in die Gesellschaft.


Wie (meine) Essays entstehen


1. Der Impuls

Es kann bei der Lektüre passieren, bei einem Abendessen mit Freund:innen, auf der Straße – etwas erregt meine Aufmerksamkeit, irritiert, bleibt hängen, beschäftigt mich. Es kann eine Beobachtung sein, eine Verwunderung, ein Satz, ein Missverständnis. Manchmal binde ich den Impuls in den fertigen Text ein, etwa im Essay „Frauen, die auf Männer starren":


„Daran muss ich denken, als ich im Cavern Club in Liverpool eine Beatles-Coverband höre und die Wände der Location betrachte. An diesen hängen Erinnerungen aus über 60 Jahren Clubgeschichte: Instrumente, signierte oder vergoldete Platten, Fotos und Zeitungsberichte – bis auf wenige Ausnahmen sind nur Männer verewigt." 

(aus: Frauen, die auf Männer starren, Kristina Klecko)

Ich notiere alles, was ich beobachte und was mir dazu einfällt, im Notizbuch oder in der Notizen-App meines Telefons. Die gesammelten Fetzen müssen geduldig sein, manche bleiben jahrelang unangetastet, andere drängen zur schnellen Verarbeitung. Einige nehme ich zum nächsten Schritt mit.


2. Die Recherche

Im zweiten Schritt beschaffe ich mir Informationen. Dabei geht es nicht nur darum, Medien zum Thema zu finden, wichtig ist die Selbstbefragung: Was denke ich? Warum denke ich das? Ist dieses Denken ein Reflex? Habe ich mich aus erster Hand über die Positionen anderer informiert oder reagiere ich auf das, was Dritte missverstanden haben?

„Das Gute am Schreiben ist: Am Anfang steht die Recherche und das kann alles sein – Bücher, Podcasts, Filme, Reisen... Ich tippte „wichtigste Gefühle" in die Suchmaschine und lernte, dass „Gefühle" nur ein Teil von Emotionen sind, obwohl wir die Wörter im täglichen Sprachgebrauch synonym verwenden." 

(aus: Fröhliche Emotionen, Kristina Klecko)

Dieser Prozess kann eine Weile im Kopf ablaufen, aber die Selbstbefragung erfolgt immer schriftlich, meist per Hand.


3. Die Rohfassung

Habe ich die ersten beiden Schritte hinter mir, folgt der erste Entwurf. Lange hat mich die Vorstellung, diese erste Fassung müsse perfekt sein, vom Schreiben abgehalten. Zwar kannte ich Aussagen von Autor:innen, die von „schrecklichen ersten Versuchen" berichten, wie Anne Lamott in ihrem großartigen Buch Wort für Wort. (Darüber habe ich ebenfalls bereits geschrieben – in „Vogelnotizen".) Doch erst als ich angefangen habe, regelmäßig Essays in meinem Newsletter „Was mache ich denn da?" zu veröffentlichen, wurde aus dem theoretischen Wissen gelebte Praxis.

„Ich habe gelernt, dass die erste Textfassung unbefriedigend ist, nach dem zweiten oder dem dritten Durchgang jedoch besser wird. Manchmal hilft die Frage, ob ich wirklich das gesagt habe, was ich sagen wollte. Manchmal hilft nichts, aber es ist Freitag." 

(aus: Newsletter für Anfänger:innen, Kristina Klecko)

Die banale Wahrheit ist: Eine Notizsammlung ist kein Text und ohne eine Rohfassung gibt es nichts zu überarbeiten.


4. Die Überarbeitung

Ich liebe es, Texte zu überarbeiten. Vielen ist dieser Teil des Schreibens lästig, aber ich bin gespannt, was ich geschrieben habe und wie ich den Text besser machen kann. Vorher gilt: Liegen lassen, wenigstens ein paar Tage, wenn möglich länger. Erst mit Abstand sehe ich umständlich formulierte Gedanken, Schachtelsätze und Wiederholungen. In dieser Phase, auf keinen Fall während des Schreibens, kann ich solche Stellen bewerten und durch bessere Einfälle ersetzen – oder streichen. Kürzen ist ein großer Teil des Überarbeitens.


„Ich will, dass die Zeit schneller vergeht, ich will Abstand gewinnen, um wieder an den Essays arbeiten zu können. Die meisten Texte werden sich verändern, einige werden verschwinden, andere hinzukommen. Ein seltsames „fertig" ist das." 

(aus: Weinen vor dem beschriebenen Blatt Papier, Kristina Klecko)


Wie lange ich für diese vier Schritte brauche, hängt vom Thema und vom Umfang des Textes ab. Manchmal wiederhole ich die Schritte. Wenn ich bei der Überarbeitung etwa merke, dass mir wichtige Informationen fehlen oder die Selbstbefragung zu oberflächlich geblieben ist. Irgendwann aber muss ich einen Punkt setzen, denn man kann einen Text durchaus zu oft überarbeiten und dadurch den Funken verlieren. Aber das Gute ist ja: Sie können mit einem neuen Text anfangen und diesen besser schreiben.


In diesem Sinne: Wundern Sie sich, schreiben Sie, überarbeiten Sie, setzen Sie „Ende" drunter – und folgen Sie dem nächsten Impuls.

Ihre 

Kristina Klecko 

 

Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion geboren. Nach dem Studium der Slawistik, Romanistik und Afrikanistik sowie Stationen in der Literatur- und Nachhaltigkeitsbranche, ist sie seit 2024 freiberuflich als Autorin und Schreibpädagogin tätig. Kristina lebt und arbeitet in Köln. Kürzlich ist ihre Geschichte „100 Meter" in der österreichischen Literaturzeitschrift Mosaik43 erschienen. Alle 14 Tage veröffentlicht Kristina Klecko in ihrem Newsletter „Was mache ich denn da?" Essays zu Literatur, Kreativem Schreiben und Zeitgeschehen und informiert über ihre Schreibkurse.

 

Liebe Kristina, ein herzliches Dankeschön, dass du dein Wissen und deine Essay-Schreibpraxis mit meinen Leser*innen teilst. Um deine Frage zu beantworten: Seit ich deine Texte lese, locken mich Essays. Also, wenn du deinen Essay-Schreibkurs startest, gib Bescheid. Eine Teilnehmerin hast du schon.

 

 

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25. Oktober 2024 | 90 Minuten |  Was macht mein gutes Leben aus?

 

Start: 30. Oktober 2024 | Gestalten. Genießen. Gewinnen: Altern mit Freude

 

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Du bist stärker als du denkst

 

 

 
 
 
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